Als eine Verneigung vor dem Leben begegnen drei Gebirgsbilder am Anfang eines Druckwerkes, das temporäre Momentaufnahme und so etwas wie Quintessenz in einem ist und das auf jeden Fall weit über den stationären Augenblick hinausschaut. Oder vielleicht ist es auch ein Hineinschauen, ein Stück weit jedenfalls in den Menschen, für den spätestens mit Ende seiner Mädchenzeit Malen wie überhaupt künstlerische Objektivation ganz wenig nur mit Schönbildnerei zu tun haben. Dazu freilich muss der Betrachter dieser Bilder bereit sein, sich auf die für ihn im ersten Moment vielleicht fremden, weil überraschenden, doch nie befremdlichen Sehweisen einer Christel Rietze einzulassen.
Jenseits ihres janusköpfigen Moments des Abschiednehmendürfens und Weitermachenmüssens besitzen diese Arbeiten im besonderen, aber auch die anderen Gebirgsbilder der Christel Rietze programmatischen Charakter. Und dies gleich in mehrfacher Weise. Wenn man auf einen Berg geht, sagt Christel Rietze, wisse man nie, was einen erwartet: Es kann Nebel sein oder es können kurze Glücksgefühle werden. Die vor allem will sie festhalten. Aber es begegnet auch Nebel in ihren Bildern. Und auch von dem anderen Aspekt wissen der Bergsteiger wie der Künstler gleichermaßen: komme ich auf den Berg, schaffe ich den Gipfel? Auch das Scheitern kann zu einer wertvollen Grenzerfahrung werden. Gerade für einen sehr wohl in sich ruhenden Unruhegeist, der in dem faustischen „Verweile Augenblick, du bist so schön“ im Genuss jenes Schönen stets der Endlichkeit des Augenblicks und wohl auch allen Lebens gewahr bleibt. An Grenzen rein handwerklicher Art schon muss stoßen, wer auch mit alsbald achtzig über einen kurzen befriedigenden Augenblick hinaus nie sich mit dem gerade Geschaffenen zufrieden findet. Das Erreichte gewährt bestenfalls kurze Rast doch stets für neuen Aufbruch nur. Was hier vieler Wort-Versuche bedarf, hat die Malerin mit ihrem der Ausstellung in der Städtischen Galerie in Neuburg gegebenen Titel „Zurück nach vorn“ selbst auf den kürzesten wie trefflichsten Nenner gebracht.
Und so stehen denn auch artifizielles Experiment und existentielles Ringen in der Malerei der Christel Rietze stets und in durchaus abrupter Folge nebeneinander. Tiefer in ein am Anfang des künstlerischen Prozesses indifferentes Etwas einzudringen, ist es dabei (fast) nebensächlich, ob es eine Sache oder ein Mensch ist. Christel Rietze will dem Wesen dieses Etwas und darob wohl der für den Menschen nur fragil erfahrbaren Bestimmtheit des Lebens auf die Schliche kommen, was mehr schon als die bloße Spur ist, strebend mehr als vage Ahnung davon gewinnen können. Wieder und wieder, einer akademischen Stilübung gleich, malt Christel Rietze im fortgeschrittenen Alter Verknotungen des wohl stets nämlichen Seils.
Sie reizt dabei der kompositorische Aspekt. Christel Rietze bedient sich dazu heute auch des Computers, rascher, denn sie ist ein Vielarbeiter, Überblick über Varianten und Variationen zu erlangen. Von ungleich größerem Reiz für den Betrachter sind die im Grunde fast ein eigenständiges Oeuvre bildenden Skizzenbücher der Malerin, die Notizblock, gezeichnete Sofortkamera und Experimentiertafel gleichermaßen sind. Diese Skizzen gehen oft weit über die Momentaufnahme hinaus, Christel Rietze dringt tiefer in den Gegenstand vor, betreibt Wesens-Exegese. Maltechnisch offenbaren diese Arbeiten einen konsequent vorangetriebenen Schichtaufbau, und doch scheint es so, als häutete sich hier und heute, wie die Ringe einer Zwiebel, vom Wesen der Malerin Christel Rietze mehr denn je.
Je besser sie es versteht und beherrscht, desto weniger interessiert sie das rein Artifizielle. Schön, schöne Blumen voran, hat die in eine trotz schwerer Zeit wohlbehütet gutbürgerliche Familienwelt hinein geborene junge Frau gemalt. Landschaften, Versuche in Akt – das gesamte Programm – wenn man so will. Rasch aber finden sich der Ausdruck und auch hoffnungsvolle Versuche künstlerischen Gestaltungswillens und selbstbewussten Gestaltenwollens. In der Lehrerausbildung gilt das besondere Interesse der Biologie und damit den Fragen nach den Zusammenhalten des Lebens, in der Lehrerin für Hauswirtschaft auch äußert sich der Zug fürs Praktische. So scheut Christel Rietze auch die kunstförderliche Organisationsarbeit nicht, übernimmt den Vorsitz in einem Kunstverein, arbeitet auf verschiedentlichen Ebenen mit. Das Malen in der Gruppe und das stille Kämmerlein stehen gleichberechtigt nebeneinander. Und es ließe sich niemals sagen, welche Arbeiten in welcher Umgebung unbedingt entstanden.
Aber das scheint ja Wesensmerkmal narrativer Malerei und fast ausschließlich bei Christel Rietze auch figuraler Malerei zu sein: Dass sie unweigerlich auch von ihrem Erzähler berichtet und dass dieser quasi als Zuhörer ein Gegenüber braucht. In den Annäherungsprozessen wohl an beide, den Erzählenden wie sein Gegenüber, generiert Kunst. Ganz anders als mancher ihrer Ausstellungstitel wie „Metamorphosen“ oder gar „Vanitas“ ist der Ausgangspunkt künstlerischer Auseinandersetzung bei Christel Rietze gern etwas ganz Konkretes; sie sagt, eine engere Beziehung zu haben zu dem, was sie male, „das scheint nötig.“ Der zweimalige Abschied von ganz wichtigen Menschen in relativ kurzer Zeit muss denn Eingang in ihre Malerei finden. Die Erfahrung von Leid auch am eigenen Leib hatte zuvor schon einmal starken Einfluss auf ihre Bilder. Die Verarbeitung von Schmerz gereicht also mindestens zweimal in der sechzigjährigen Malereigeschichte der Christel Rietze zum künstlerischen Durchbruch. In dem Punkt treffen sich expressiver Ausdruck und strukturaler Gestaltungswille, dieser voran auch als künstlerischer Reifeprozess, jener ein Stück Bewältigungsund Trauerarbeit. „Musste erst jemand sterben, dass ich meine besten Bilder male“, fragt Christel Rietze sich und die gläubige Frau wohl auch ihren Gott. Doch gilt, was der stets selbst so suchend strebende Künstlerkollege Alois Bauer 2011 anblicks der „Vanitas“-Bilder der Christel Rietze so trefflich notierte: „Schonungslos und sehr persönlich sind ihre Darstellungen, doch hoffnungslos lassen sie uns nicht zurück.“ Als ahnte der Autor damals schon was von der neuen, figürlich überschäumenden Lebensfreude der jüngsten und wieder so jung wirkenden Arbeiten. Es ist, als platzte plötzlich der Knoten, in den sich Christel Rietze in einer langen Werkserie unmittelbar zuvor durchaus lustvoll verbissen hatte.
Strukturale Reduktion, wie sie voran in den Achtzigerjahren begegnete, scheint nunmehr purer körperlicher Freude gewichen, die langen Exerzitien davor eröffnen ihr heute dafür auch die künstlerischen Fähigkeiten. Ständig fortschreitend, mit großer Entdeckerlust, das Wagnis mit offenem Ausgang riskierend, halten die Bilder der Christel Rietze immer wieder jene raren und deshalb teuren Augenblicke des Glücks fest. Diese machen die Augen aber nicht blind vor einer oft auch anders gelagerten Seinswirklichkeit auf der Welt. Doch trachtet Kunst nicht immer wieder nach diesen Ausnahme-Momenten. Noch die Partizipation daran als Betrachter ist herausforderndes Privileg und einladende Herausforderung gleichermaßen.
Joseph Heumann